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Was ist Agitprop-Theater?

Agitprop ist ein Akronym aus den Wörtern Agitation und Propaganda und bezeichnete als Kurzwort die „Abteilung für Agitation und Propaganda“ innerhalb der Partei der Bolschewiki. Agitprop meint historisch jegliche Form der Aufklärung und Vermittlung leninistisch-kommunistischer Politik und entsteht im Sowjetrussland nach der Oktoberrevolution, nach 1917. Zum Zweck der kommunistischen Propaganda wurde gezielt künstlerische Mittel wie Plakat und Malerei, Plastik und Architektur, Film und Musik, Literatur und Rhetorik usw. eingesetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt sich auch Theater als Agitprop – besonders stark und wirkungsmächtig in der Weimarer Republik nach der Novemberrevolution 1918/19..

Kunsttheoretisch

Agitprop als Kunstform ist genuin das, was in der Kunstgeschichte als Kunst der klassischen oder historischen Avantgarde bezeichnet wird. Die historische Avantgarde produzierte Kunst zum Fortschritt der Gesellschaft und wollte das Leben als Ganzes gestalten.

Es gibt zwei Arten historischer Avantgarde. Eine Avantgarde, die Staatskunst war, und eine Avantgarde, die gegen die etablierte Staatsmacht agitierte. Dieses Verhältnis zur Macht – einmal ein positives, andermal ein negatives – bewirkte eine entscheidende, ästhetische Differenz. Das historische Agitprop-Theater nämlich, wie es ab 1919 im deutschsprachigen Raum entstehen wird, negiert die bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse der Weimarer Republik.

Die historische Avantgarde in Sowjetrussland, die heute als russischer Konstruktivismus bezeichnet wird, operierte innerhalb der etablierten politischen und ökonomischen Ordnung des Sowjetstaates. Die avantgardistische Kunst in Sowjetrussland entsteht im Auftrag der etablierten Sowjetherrschaft und die russischen Konstruktivisten produzieren Kunst in dem Selbstverständnis, vom Staat die sozialpolitische Gestaltungsmacht übertragen bekommen zu haben und nun die neue Gesellschaft mit Mitteln der Kunst zu gestalten. Der russische Konstruktivismus war Staatskunst – wenn man Staatskunst hier so versteht, dass der Künstler die Staatsgesellschaft und damit letztlich auch den Staat gestaltet.

In Deutschland entsteht das Agitprop-Theater nach dem Ersten Weltkrieg, nach der Novemberrevolution 1918/19, mit der sowohl die Projekte der anarchistischen Räterepubliken (in Bremen und in München), als auch das Projekt einer sozialistischen Revolution (wie in Berlin der Spartakusaufstand) gescheitert sind. Statt eines kommunistischen Staates wird in Deutschland mit der Weimarer Republik ein bürgerlicher Staat demokratisch-kapitalistischer Verfassung gegründet. Avantgardistische Kunst – wie bspw. der Dadaismus oder eben das Agitprop-Theater – steht hier also zur politischen Ordnung im Verhältnis der Negation. Sie negiert und kritisiert die bestehenden Verhältnisse anstatt den Gesellschaftskörper wie in einer kommunistischen Kunstdiktatur designen zu können. Die avantgardistischen Künstler innerhalb eines bürgerlichen Staates befinden sich aber nicht nur in einer Negation zu den bestehenden Verhältnisse, zugleich arbeiten sie auch in Kunstinstitutionen dieser bürgerlichen Gesellschaft und produzieren weiterhin autonome Kunstwerke.

Der Entstehungshintergrund des Agitprop-Theaters ist sicherlich wichtig, um zu sehen, was dieses Agitprop-Theater ist, das in Deutschland entsteht und von Theatermacher*innen, die wir alle kennen, entwickelt wird. Das Agitprop-Theater wurde immer auch als Kunstwerk gedacht und gemacht.

Theatergeschichtlich

Die Wurzeln des Agitprop-Theaters in Deutschland sind das Arbeitertheater und das revolutionäre Laientheater. Im März 1919 gründen Erwin Piscator und Hermann Schüller das „Proletarische Theater“, das sich als „Bühne der revolutionären Arbeiter Groß-Berlins“ versteht. Piscator beginnt, das Arbeitertheater – das bis dahin als Theater für Proletarier vor allem eine kulturvermittelnde Funktion erfüllt hatte – auch als Ort für revolutionäre Propaganda zu gebrauchen. Weiterhin bleibt die Ästhetik des „Proletarischen Theaters“ dem bürgerlichen Schauspiel verpflichtet. Auch steht die KPD dem Arbeitertheater kritisch gegenüber, erkennt sie darin weiterhin eine bürgerliche Theaterkunst.

Das änderte sich ab 1924, als die KPD ihre Haltung gegenüber dem sich erneuernden Theater revidiert. Aus den proletarischen Laienspielgruppen hatten sich revolutionäre Sprechchorgruppen entwickelt, die zum Zweck der revolutionären Idee auftraten und nun eher einer fortschrittlichen Avantgarde entsprachen. Durch die Initiierung der KPD kommt es nun vielfach zur Gründung von proletarischen Spielgruppen, die mit theatralen Mitteln Propaganda machen, und ab 1926 gibt es eine flächendeckende Verbreitung der Agitprop-Truppen und ihrer Agitprop-Aufführungen im deutschsprachigen Raum. Bis 1933 hält die Bewegung des Agitprop-Theaters ungebrochen an. Auch noch in den frühen 1930er Jahren, vor der Machtübernahme durch Hitler werden Agitprop-Truppen gegründet. Nach der Machtübernahme durch Hitler werden die Mitglieder der Agitprop-Truppen verfolgt und die Truppen lösen sich auf. Über seine Erfahrung der Verfolgung als ein Gründer und Spieler einer Agitprop-Truppe schreibt Wolfgang Langhoff in „Die Moorsoldaten“.

Wie gesagt, Agitprop-Theater wird im gesamten deutschsprachigen Raum gespielt, vom Saarland bis nach Königsberg, von der süddeutschen Provinz im Schwarzwald (Freudenstadt, Tübingen) und von Österreich (Wien) bis an die Nordsee. In den deutschen Industriezentren und Metropolen gibt es naturgemäß vermehrt Gruppen. Die Hauptstadt des Agitprop-Theaters ist Berlin, hier verteilen sich die Truppen über die einzelnen Stadtteile. Im Wedding das „Rote Wedding“ und „Das rote Sprachrohr“, „Die roten Raketen“ in Neukölln, „Kolonne Links“ in Steglitz, in Friedrichshain „Kurve Links“, in Ost-Berlin sind „Die Wühler“ mit dem Laster unterwegs, in Berlin-Schönhausen „Die junge Garde“, dann auch „Die roten Fahnen“ und „Sturmtrupp Alarm“ u.a.m. Oft sind die Truppen über ihre Heimatstadt hinaus in den umliegenden Regionen unterwegs, wie die „Roten Reporter“ und die „Blauen Blusen“ aus Bremen in Norddeutschland. 1930 gründete Wolfgang Langhoff in Düsseldorf die Truppe „Nordwest ran“, mit der er durch das Ruhgebiet fährt. 1932 gründet Friedrich Wolf den „Spieltrupp Südwest“ und tourt durch Württemberg. Von Beginn der Agitprop-Bewegung an beteiligen sich namhafte Theatermacher. Neben Wolfgang Langhoff und Friedrich Wolf spielen auch Ernst Busch und Helene Weigel Agitprop, Bert Brecht schreibt Liedtexte und Hanns Eisler komponiert (z.B. das Truppen-Lied des „Roten Sprachrohrs“). Vor allem Erwin Piscator prägt entscheidend die Ästhetik des Agitprop-Theaters mit seiner „Revue Roter Rummel“ im Berlin 1924.

Ästhetisch

Für die Ästhetik der Avantgarde typisch besteht das Agitprop-Theater aus einer Montage von verschiedenen Elementen. Unterschiedliche darstellende, musikalische und technische Stil- und Formelemente werden zusammengefügt und stehen nebeneinander, ohne dass sich deren Unterschiede organisch auflösen würden. Man montiert Instrumentalmusik, Gesang, Sprechchor, die politische Rede, Diskussion, Gymnastik, Tanz, Pantomime und Schauspiel-Szenen. Man bedient sich beim bürgerlichen Schauspiel, am Laienspiel, am Cabaret, an der Revue, beim Chanson, beim Volkslied und der Marschmusik. Oft haben die Truppen ihr eigenes Auftrittslied zum Zweck der Wiedererkennung. Man agitiert mit Banner, Plakat, Flugblatt und Broschüre, mit Megaphon, Grammophon und Projektion. Man ist mit dem Auto unterwegs und spielt bei politischen Veranstaltungen, bei Sport-Events, in den Betrieben, auf der Straße und öffentlichen Plätzen, in Bierhallen, Kaffeehäusern und auch in Theatern.

Die Berliner Agitprop-Truppe „Rotes Sprachrohr“, Ausschnitt aus dem Film von Slatan Dudow "Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt“ (1929)

Agitprop für alle!

Das historische Agitprop mit seinem ästhetischen Potenzial war Ideengeber für unsere Arbeit „Agitprop für alle!“, mit der wir in diesem Sommer 2017 begonnen haben. Das Ziel unserer Arbeit ist es, das Agitprop-Theater zu re-vitalisieren. Das heißt wir arbeiten daran, es auf unsere Gegenwart zu übertragen. Anstatt für das autoritäre Projekt des Staatskommunismus zu agitieren, das sich in den vergangenen hundert Jahren diskreditiert hat, haben wir uns mit dem „Agitprop für alle!“ entschieden, Medium einer zeitgemäßen, libertären Selbstermächtigung zu sein und Propaganda zu machen für die real-utopische Neugestaltung unserer Gegenwart auf Basis einer anarcho-libertären Graswurzelbewegung. In den Wochen vor der Bundestagswahl sind wir mit unserem Agitprop-Theater durch Deutschland getourt und haben das Unmögliche propagiert. Wir sind mit einer 21-minütigen Intervention auf Wahlveranstaltungen der großen Parteien von DIE LINKE bis zur AfD aufgetreten; dem Konzept unseres Agitprop entsprechend spontan, ungefragt und ohne offizieller Programmpunkt der Wahlveranstaltungen zu sein. Zum Abschluss dieser kurzen Einführung in das Agitprop-Theater einen 90-sekündigen Auszug aus „Agitprop für alle!“.

Ausschnitt aus der Performance „Agitprop für alle!“ unmittelbar nach der ersten Hochrechnung zur Bundestagswahl 2017 vor der CDU-Parteizentrale in Berlin.

Literatur

Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Suhrkamp 1974.

Erika Funk-Hennings, Die Agitpropbewegung als Teil der Arbeiterkultur der Weimarer Republik. In: Beiträge zur Popularmusikforschung, Bd. 15/16 (1995).

Boris Groys, Im Namen des Lebens. In: ders. (Hrsg.), Am Nullpunkt, Suhrkamp 2005.

Boris Groys, Kunstaktivismus. In: Lettre International 106, Herbst 2014.

Erwin Piscator, Das politische Theater, Adalbert Schultz-Verlag 1929.

Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten, Schweizer Spiegel-Verlag 1935.